Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenförde beschrieb 1978 in seinem in der Neuen Juristischen Wochenzeitschrift (NJW) erschienen Aufsatz „Der verdrängte Ausnahmezustand – Zum Handeln der Staatsgewalt in außergewöhnlichen Lagen“, Möglichkeiten wie der demokratische Rechtsstaat außergewöhnlichen Lagen begegnen könne.
Im Hinblick auf die bevorstehende Abstimmung über die infektionsschutzrechtliche Übertragung der Gefahrenabwehr auf den Bund infolge einer drei Tage währenden 100er-Inzidenz, sei ein Blick auf seine Thesen angezeigt.
Nach Böckenförde entgleitet dem Verfassungsstaat die „Integrität der Normallage“ immer stärker, je mehr er potenzielle Ausnahmelagen durch generelle Normierungen zu normalisieren versucht. Die Übertragung der Gefahrenabwehr von den Ländern auf den Bund wird folglich einen normalisierten Dauerzustand begründen, der als verfassungspolitische „neue Normalität“ gewertet werden kann. Obgleich Böckenförde dazu
anmahnt, dass die „Trennung der Feststellungskompetenz für den Ausnahmezustand von der Innehabung der Ausnahmebefugnisse“ getrennt sein müsse und dies auch aktuell dadurch gewährleistet wird, dass der
Deutsche Bundestag zunächst die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ festgestellt hat, ist die Entwicklung mit Sorge zu betrachten.
Das Wirken einer großen Koalition und das Verstummen oppositioneller Parteien, mit Ausnahme der AfD, wird die Übertragung der Ausnahmebefugnisse auf die Bundesregierung als leichten Schritt gestalten. Lauter, demokratischer Protest wird gegen diesen Akt der Herausbildung einer Zentralgewalt auf Bundesebene kaum zu vernehmen sein. Der Selbstermächtigung des Trägers der Ausnahmebefugnisse dürfte
aufgrund der Schwäche und Angepasstheit des deutschen Parlamentarismus Tür und Tor geöffnet werden.
Böckenförde warnt zu Recht vor einer rechtlichen Begrenzung der Ausnahmebefugnisse durch eine inhaltliche Normierung, da diese den Ausnahmezustand zum Regelfall werden lasse. Das Übersteigen der
100er-Inzidenz, einem politisch-willkürlichen festgelegten Wert, wird so Vehikel eines ständig wiederkehrenden Machtanspruchs der Exekutive wider die parlamentarische Kontrolle.
Vielmehr muss das staatliche Handeln nach Böckenförde nicht von seinen Eingriffsvoraussetzungen hergedacht werden, sondern von der Wiederherstellung des Normalzustandes. Im Kontext der Corona-Pandemie
dürfte dieser nicht in sinkenden Inzidenzwerten zu sehen sein, wohl aber in der Belastbarkeit der Gesundheitsinfrastruktur. Verfolgt die etablierte Politik jedoch weiterhin die „No-Covid“-Strategie, so wird sie sich fortan auf das Infektionsschutzgesetz berufen können. Der verfassungspolitische Ausnahmezustand wird sodann zum Normalzustand zentraler Exekutivgewalt, wie sie der deutsche Föderalismus nie kannte oder sich hätte träumen lassen.
„Wer stark genug ist, alle zu schützen, ist auch stark genug, alle zu unterdrücken.“
(Thomas Hobbes)
Matthias Helferich